Erinnern heißt verändern

Vor 30 Jahren kam es in Rostock zu den schwersten fremdenfeindlichen Ausschreitungen nach der Wende. Vom 22. bis 26. August erinnern zahlreiche Ausstellungen und öffentliche Veranstaltungen an die damaligen Ereignisse.

Das "Sonnenblumenhaus" in Rostock-Lichtenhagen, an dem sich vor 30 Jahren, vom 22. bis 26. August 1992, die schwersten fremdenfeindlichen Ausschreitungen nach der Wende ereigneten

Rostocker Bürgerschaft entschuldigte sich vor zehn Jahren

Die Rostocker Bürgerschaft entschuldigte sich vor zehn Jahren, zum 20. Jahrestag der Ausschreitungen, in einer Erklärung bei den Opfern. Rund 150 Menschen hätten damals um ihr Leben fürchten müssen, während Rechtsextremisten aus ganz Deutschland, aber auch Tausende Rostocker Beifall klatschten, hieß es darin. Die in der Verantwortung stehenden Behörden von Bund, Land und Kommune hätten versagt. Die Ereignisse dürften weder verdrängt noch beschönigt oder vergessen werden. Die Aufarbeitung sei ein immerwährender Auftrag.

Einen weiteren Schritt des Gedenkens ging Rostock vor fünf Jahren mit einer Gedenkwoche, in der fünf Stelen aus Marmor in verschiedenen Stadtteilen eingeweiht wurden, die die Künstlergruppe „Schaum“ zum Thema „Gestern Heute Morgen“ gestaltet hatte. Eine sechste Stele mit dem Titel „Empathie“ kam ein Jahr später im August 2018 auf Initiative des Vereins Waldemar Hof auf dem Doberaner Platz hinzu. Sie ist den Betroffenen des Pogroms von 1992 gewidmet.

Planung vieler Ausstellungen und öffentlicher Veranstaltungen

Zum Gedenken gibt es im August 2022 zahlreiche Ausstellungen und öffentliche Veranstaltungen in Rostock. „Das Pogrom ist Teil unserer Stadtgeschichte“, teilte Chris von Wrycz Rekowski (SPD), Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters, kürzlich mit. Für alle nachfolgenden Generationen bleibe die wichtige Aufgabe, Rassismus und Hetze gegen nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten zu verurteilen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält Rede im Rostocker Rathaus

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hier beim Kirchentag in Dortmund 2019 (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird am 25. August in Rostock erwartet. Er wird am frühen Abend bei einer Gedenkstunde im Rathaus eine Rede halten. Zuvor will das Staatsoberhaupt am „Sonnenblumenhaus“ im Stadtteil Lichtenhagen Blumen niederlegen. Anschließend will Steinmeier das dortige Stadtteil- und Begegnungszentrum besuchen, um mit Schülerinnen und Schülern, Anwohnerinnen und Anwohnern ins Gespräch zu kommen. Auch ein Besuch des buddhistisch-vietnamesischen Tempels in Rostock ist eingeplant.

Bereits im Januar 2022 hatte ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Rostock und Mecklenburg-Vorpommern ein Positionspapier zu 30 Jahre Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen veröffentlicht. Darin wird unter anderem gefordert, die Angriffe vom August 1992 als rassistisches und antiziganistisches Pogrom zu benennen und ein nachhaltiges Gedenken zu gestalten. Am 25. Februar startete das Bündnis ein Gedenkjahr. Hintergrund ist, dass am 25. Februar 2004 der 25-jährige Dönerverkäufer Mehmet Turgut von der NSU-Terrorzelle im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel in einem Imbiss erschossen worden war.

Umgang mit Asylsuchenden und das Thema „Rassismus“ verbessern

Den heutigen Umgang mit Asylsuchenden und das Thema „Rassismus“ wollen das Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“ und die Initiative Pro Bleiberecht mit Aktionen thematisieren. Pro Bleiberecht veranstaltet am 21. August drei Kundgebungen am Rostocker Rathaus, am Schweriner Innenministerium und am Asylbewerber-Erstaufnahmelager in Nostorf-Horst (Kreis Ludwigslust-Parchim). Das Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“ ruft zu einer Demonstration am 27. August in Rostock unter dem Motto „Damals wie heute: Erinnern heißt verändern!“ auf. Dazu werden rund 5.000 Demonstranten und Demonstrantinnen erwartet.

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Kien Nghi Ha, Wissenschaftler, Vietnahm, Rassismus, Ausländer, Diskriminierung, Bühne
Kien Nghi Ha bei einer Rede in Rostock-Lichtenhagen am 25.8.2012

INTERVIEW MIT KIEN NGHI HA

„Bis zum Pogrom lebte ich in einer realitätsfernen Blase“

Vor 30 Jahren kam es im Stadtteil Rostock-Lichtenhagen zu einem massiven rassistischen Pogrom gegen osteuropäische Roma und vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha erklärt im Gespräch die Unsichtbarmachung der Opfer in der Erinnerungspolitik und ihre Auswirkungen auf die vietdeutsche Community.

Von Montag, 22.08.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.08.2022, 14:48 UhrLesedauer: 14 Minuten  |  

 

Marten Brehmer: Herr Ha, zum 20. Jahrestag des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen schrieben Sie 2012, dass das Interesse der Öffentlichkeit an den Ausschreitungen zu den runden Jahrestagen immer wieder schlagartig ansteige, aber kaum nachhaltige Erinnerungsarbeit stattfinde. Hat sich zehn Jahre später daran etwas geändert?

Kien Nghi Ha: Die Konjunktur, ein wichtiges zeithistorisches Ereignis anlässlich von Jubiläen und Jahrestagen besonders sichtbar zu machen, ist durchaus sinnvoll und erstmal auch vollkommen nachvollziehbar. Das ist an sich nicht problematisch. Problematisch ist aber, wenn ein eklatantes Missverhältnis zwischen einer weitgehenden Nicht-Thematisierung als Normalzustand und den aufgesetzten Gedenktagen als Ausnahmezustand existiert. Dann wird das Gedenken zu einer Show- und Alibiveranstaltung, die das Unsichtbarmachen und Verschweigen übertüncht und auch legitimiert, da die politisch Verantwortlichen dann sagen können: „Wir haben Rostock-Lichtenhagen doch gar nicht vergessen. Wir haben zum 10. und 20. Jahrestag großartige Veranstaltungen mit prominenten Gästen durchgeführt und die bundesweite Presse hat auch ganz toll darüber berichtet“. So kann man ein unangenehmes Pflichtthema ohne eine ehrliche und schmerzhafte inhaltliche Auseinandersetzung formal abhaken und auch noch politisch Kapital daraus schlagen. Auf mich wirkt diese Form „des Gedenkens“ hohl und unehrlich, um nicht zu sagen heuchlerisch. So wird offiziell immer noch nicht des Pogroms gedacht, da das Ereignis euphemistisch meist als Krawalle oder Ausschreitungen bezeichnet wird.

Zum 30. Jahrestag des Pogroms plant die Stadt Rostock eine Veranstaltungsreihe. Wie bewerten Sie die Bemühungen der Stadtverwaltung, an das Pogrom zu erinnern?

Es wird offizielle Veranstaltungen der Stadt geben. Details sind bisher – soweit ich weiß – nicht öffentlich bekannt gegeben worden. Früher fiel das Thema nach den Festtagen wieder fast völlig unter dem Tisch und war damit bis zum nächsten publicityträchtigen Pflichtdatum wieder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein und politischem Blickfeld verschwunden. Seit 2017 hat sich das ein Stück weit geändert, da die bis dato vorherrschende Strategie zu sehr aus der Zeit gefallen ist. Der fortschreitende politische Diskurs über das eigene Selbstverständnis als plurale Einwanderungsgesellschaft machte eine Modernisierung im Umgang mit dem Pogrom in Lichtenhagen notwendig. Das plumpe Abfeiern zu den Jahrestagen lag zu offensichtlich im Konflikt mit den erinnerungspolitischen Mindeststandards, die sich etwa durch die Aufarbeitung der rassistischen NSU-Terrormorde langsam etablieren. So hat die Stadt Rostock zum 25. Jahrestag ein dezentrales Mahnmal an fünf Standorten aufgestellt, neben dem Sonnenblumenhaus auch am Rathaus, an der Polizeidirektion, am Verlagshaus der Ostsee-Zeitung und in einem Park, wo früher das alternative Jugendzentrum stand. Darüber hinaus wird auch eine halbe Stelle für ein Dokumentationszentrum finanziert. Das sind bescheidene Schritte, die zwar eine Verbesserung zum früheren Status quo darstellen, aber bei weitem nicht ausreichen.

Sehr schade ist, dass die Chancen und Potentiale, die mit dem dezentralen Gedenkkonzept angelegt sind, nicht genutzt wurden. So hat sich die Stadt bei dem Wettbewerb für das abstrakte Modell der Rostocker-Künstlergruppe SCHAUM entschieden. Statt die Geschichte vor Ort konkret und menschlich nahbar aufzuzeigen, werden universelle Gesten wie die Umarmung, schwer verständliche Symboliken (ein Vogelhaus) oder emotionslose Gesetzeszitate verwendet. Ihr Arbeitsmotto für das öffentliche Gedenken lautet „Die Kunstwerke wollen keine Antworten oder Schuldzuweisungen geben“. Die weißen und mit einer Grundfläche von jeweils nur 0,16 qm extrem raumsparenden Installationen fragen dementsprechend auch nicht wirklich nach Ursachen, Verantwortung und Konsequenzen. Sie sind extrem unauffällig und leicht zu übersehen, da sie oft versteckt stehen oder sich optisch im weitläufigen Stadtraum auflösen. Selbst wenn man aktiv danach sucht, sind sie nicht leicht zu finden. So bleibt der Eindruck, dass mit dem minimalistischen Mahnmal erneut nur eine Pflichtaufgabe erfüllt wurde, die im Alltag möglichst wenig stört und wehtut. Bitter bleibt auch der Nachgeschmack, dass erst nachträglich ein Mahnmal für die Roma und vietnamesischen Betroffenen des Pogroms aufgestellt wurde. Es wurde ein Jahr später von zivilgesellschaftlichen Organisationen finanziert, da die Stadt Rostock die Opfer der rassistischen Gewalt erneut vergessen hat. So werden auch im Modernisierungsprozess tradierte Strukturen reproduziert und fortgesetzt.

Mahnmal, Stele, Pogrom, Rostock, Lichtenhagen

Stele soll an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen erinnern © Kien Nghi Ha

Ein Bündnis antirassistischer und antifaschistischer Gruppen plant eine Großdemonstration am 27. August. Derartige Demonstrationen gab es bereits zu anderen Jahrestagen. Wie bewerten Sie diese Versuche, das Gedenken stärker zu politisieren?

Ich sehe in diesen Demonstrationen keine politische Instrumentalisierung. Meines Erachtens nach geht es bei der Demonstration darum, Solidarität mit allen Rassismusbetroffenen auszudrücken, an gesellschaftliche Ursachen und politische Verantwortlichkeiten für das Pogrom zu erinnern und eine weitergehende Aufarbeitung einzufordern. Auch sollen zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort gestärkt werden. Es ist klar, dass öffentlicher Druck auf kommunale Akteure aus Politik und Verwaltung notwendig ist, damit sich etwas bewegt, die Einsicht entsteht, dass Programme und Konzepte erarbeitet werden müssen und das was bisher da ist keinesfalls ein Schlussstrich sein kann. Das lokale Bündnis, dass die Demo organisiert, hat ein Positionspapier veröffentlicht. Darin fordert sie die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen offiziell endlich als Pogrom anzuerkennen. Die Perspektiven der Betroffenen sollen in einem nachhaltigen Aufarbeitungs- und Erinnerungsprozess nicht nur einbezogen, sondern Priorität gegeben werden. Und das Bündnis spricht sich für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik aus. Ich denke, dass diese Forderungen für eine angemessene Gedenkpolitik und Erinnerungsarbeit in der pluralen Einwanderungsgesellschaft mit demokratischem Anspruch absolut notwendig sind.

Wie könnte ein angemessenes Gedenken aussehen?

Es wäre wichtig, Strukturen und Institutionen für eine kontinuierliche Erinnerungsarbeit für die Gesellschaft zu entwickeln, zu etablieren und ausreichend zu finanzieren. Dann wäre so vieles denkbar: wöchentliche Angebote für Schulklassen und regelmäßige Führungen für alle Interessierten, ein antirassistisches soziokulturelles Zentrum mit vielfältigen Workshops und Kursen in Lichtenhagen selbst, alljährliche Kulturfestivals. Das Wichtigste wäre für mich ein Museum mit Dauer- und Wechselausstellungen, die nicht nur der Vorgeschichte, den Ablauf und Nachwirkungen des Pogroms gewidmet sind, sondern auch benachbarte Kontexte thematisiert: z.B. die Einwanderungsgeschichte der Stadt, ihre Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte und in der NS-Zeit, die Extremisierung von Nationalismus und Rassismus im Zuge der deutschen Einheit, die Geschichte rassistischer Gewalt in Deutschland, aber genauso auch eine Auseinandersetzung mit institutionalisierten Rassismus etwa in der sog. Ausländerpolitik und der Geschichte der Gast- bzw. Vertragsarbeiter:innen in West- und Ostdeutschland, Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart, neue Communities von Geflüchteten aus dem Nahen Osten, Afghanistan und der Ukraine etc.

Wie wurde das Pogrom in der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung aufgearbeitet?

Es gibt einen sehr auffälligen Kontrast: Trotz der herausragenden gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Bedeutung des Pogroms sind bisher sehr wenige Forschungsprojekte durchgeführt und Publikationen veröffentlicht worden. In den letzten drei Jahrzehnten sind weniger als eine Handvoll wissenschaftlicher Monographien oder Sammelbände erschienen, die sich dezidiert mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und seinen Nachwirkungen auseinandersetzen. Darüber hinaus gibt immer wieder mal einige Master- und Bachelorarbeiten von interessierten Studierenden. Es ist bisher aber kein Thema, dass ein großes Forschungsinteresse hervorgerufen hat. Was die Gründe angeht, kommen hier einige Faktoren zusammen: Vermutlich wurden die Aussichten auf eine Forschungsförderung als gering angesehen oder das Thema als wenig karrierefördernd erachtet. Vielleicht reflektiert das Desinteresse einfach die Nicht-Betroffenheit der Weißen Dominanzgesellschaft oder spiegelt auch nur den jahrzehntelang gepflegten Ritus des Wegschauens.

In Ihrer Forschungstätigkeit beschäftigen Sie sich viel mit der Gemeinschaft von Vietnamstämmigen in Deutschland. Welche Spuren hat das Pogrom in der Community hinterlassen?

Das ist schwierig zu sagen, weil es keine systematische Forschung dazu gibt, so dass wir hier auf subjektive Eindrücke und individuelle Erfahrungsberichte angewiesen sind. Sicherlich ist davon auszugehen, dass das Ereignis extrem traumatisierend wirkte und bereits bestehende Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, besonders in der vietnamesischen Community in Ostdeutschland, nochmals stark verschärft hat. Im Vorfeld hatten rassistische Reden führender Politiker:innen und die teilweise aufhetzende Medienberichterstattung ein großes Gefühl der Verunsicherung ausgelöst. Der verweigerte Schutz durch die Polizei, selbst dann als das Sonnenblumenhaus bereits in Flammen stand, war sehr dramatisch und nährte das Misstrauen gegenüber deutschen Behörden. Im Nachgang erhielten die Opfer keine Entschädigung oder Entschuldigung, sondern wurden meistens abgeschoben. Auch die geringe Anzahl von zumeist milden Strafen, die teilweise erst nach zehn Jahren zustande kamen, musste in den Augen der Opfer wie eine nachträgliche Verhöhnung des Rechtsstaats wirken.

Obwohl die zumeist aus ehemaligen Boat People-Familien bestehende Viet-Community in Westdeutschland teilweise anti-kommunistische Vorbehalte gegen die Landsleute in Ostdeutschland hatte, waren sie als Asiatisch rassifizierte Menschen von der grassierenden rassistischen Gewalt nicht ausgenommen, die trotz regionaler Schwerpunkte im gesamten Bundesgebiet wütete. Es gab natürlich Betonköpfe, die an alte Feindbilder aus den Zeiten des Kalten Krieges festhielten. Andere empfanden angesichts der überwältigenden menschlichen Not und der brutalen Gewalt eine große Empathie für die Angegriffenen. Trotz aller Differenzen brachte ironischerweise die gemeinsame Betroffenheit durch den deutschen Einheitsrassismus eine Annäherung in dieser durch koloniale Kriege geteilten Community.

Eine Beobachtung, von der Sie in zahlreichen Publikationen berichten, ist die, dass innerhalb der Community nur wenig über das Geschehene gesprochen wird. Eine Interviewpartnerin in ihrer aktuellen Veröffentlichung – eine junge Frau, deren Eltern sich zum Zeitpunkt des Pogroms in Rostock aufhielten – berichtet, dass Sie nicht von ihrer Familie, sondern von Mitschülern das erste Mal von Lichtenhagen hörte. Wie erklären Sie sich dieses Schweigen?

Die Betroffenen wurden ja auch nicht gefragt, und es ist auch nicht so, dass die deutsche Gesellschaft sich bisher übermäßig für ihre Erfahrungen und Perspektiven interessiert hätte. Obwohl seit kurzem Projekte wie „MigOst“ für selbst erzählte Migrationsgeschichte in Ostdeutschland laufen, fehlt es nach wie vor an Räumen, Archiven und Möglichkeiten zur kulturellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser Zeit. Und natürlich stellt die Sprachbarriere ein wichtiges Hindernis dar, so dass es viel Zeit braucht, um nicht nur eine (eigene) Stimme zu finden, sondern sich selbstbewusst eine Fremdsprache anzueignen und darin heimisch zu werden.

Angesichts der Tatumstände und der Verstricktheit von Politik, Medien und Sicherheitsorganen erwarteten die angegriffenen Communities keine Hilfe von der Weißen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Erfahrungen waren diesbezüglich eindeutig: Statt Entschädigung und eine angemessene juristische Aufarbeitung der rassistischen Gewalt, waren sie von Abschiebung bedroht. Gerade die ständigen Konflikte mit deutschen Verwaltungen aufgrund des ungesicherten Aufenthaltsrechts, löste grundsätzliche Ängste aus. Wer mit solchen fortdauernden existenzbedrohenden Problemen konfrontiert ist, hat natürlich nicht den Kopf frei sich mit solchen unangenehmen Themen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, sich auf andere Themen zu konzentrieren und den Blick auf praktische Dinge zu richten, die die Betroffenen selbst beeinflussen können.

Progrom, Rostock-Lichtenhagen, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus
Fernsehbild vom Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

KEINE ENTSCHÄDIGUNG, KEINE ENTSCHULDIGUNG

30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: „Der Hass ist nicht verschwunden“

Bundespolitiker haben an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock vor 30 Jahren erinnert. „Der Hass ist nicht verschwunden“, warnt der Justizminister. Ein Pogrom wie 1992 hält die Flüchtlingsbeauftragte jedoch nicht mehr für möglich. Flüchtlingsorganisationen fordern Ende von Massenunterkünften.

Montag, 22.08.2022, 16:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.08.2022, 16:09 Uhr  

 

30 Jahre nach den Ausschreitungen gegen Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen haben Politiker und Organisationen ihre Erschütterung über die damaligen Ereignisse ausgedrückt. Die Angriffe auf die Bewohnerinnen und Bewohner einer Aufnahmestelle für Asylsuchende in Rostock-Lichtenhagen gehörten zu den schlimmsten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte, erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Montag in Berlin. Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), äußerte sich überzeugt, dass solch ein rassistisches Pogrom in der Form heute nicht mehr möglich sei. Organisationen für Flüchtlinge fordern dennoch weitere Konsequenzen. Vom 22. bis zum 26. August 1992 gab es im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen schwere rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Ausschreitungen. Im Verlauf der vier Tage gerieten dabei 150 Menschen in akute Lebensgefahr, nachdem ein Wohnhaus ehemaliger vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter in Brand gesetzt worden war. Mehr als 200 Polizisten wurden verletzt, einer davon schwer.

„Es war die gesamte Gesellschaft.“

Faeser kritisierte das damalige Verhalten Schaulustiger und der Polizei. „Es ist bis heute erschütternd, dass kaum einer gegen den Mob einschritt“, erklärte sie. Viele Menschen hätten sogar applaudiert und die Angreifer weiter angestachelt. „Dass kein Mensch starb, war reines Glück“, sagte Faeser und ergänzte: „Der in Rostock-Lichtenhagen aufgeflammte rechtsextremistische Menschenhass wurde zum Fanal, ebenso wie das zögerliche und halbherzige Verhalten der Sicherheitskräfte und die zu geringe Empathie in Politik und Gesellschaft.“

Ähnlich äußerte sich die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Die Ausschreitungen hätten nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum stattgefunden, erklärte Präsident Michael Groß. Es seien Rechtsextremisten gewesen, die Steine warfen und Feuer legten. „Es war aber die gesamte Gesellschaft, die sie mit ihrem Zündeln dazu ermutigt hat“, sagte er.

„Der Hass ist nicht verschwunden.“

Alabali-Radovan sagte im Deutschlandfunk, die Sicherheitsbehörden seien heute ganz anders aufgestellt und die Zivilgesellschaft sei jetzt lauter und stärker gegen Rassismus. Wie Faeser bezeichnete sie Rechtsextremismus dennoch als weiterhin größte Gefahr für die innere Sicherheit. Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte auf Twitter: „Der Hass ist nicht verschwunden. Es bleibt unsere Pflicht, unsere offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.“

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung kritisierte die damalige Reaktion der Bundespolitik auf die rassistischen Ausschreitungen, unter anderem durch eine Verschärfung des Asylrechts. Über die rechtsextremen Strukturen und Rassismus sei überhaupt nicht gesprochen worden, sagte Alabali-Radovan. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) kritisierte, dass das Leid der Opfer bis heute zu wenig öffentliche Beachtung finde.

 

Ende von Massenunterkünften gefordert

Auch der Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha kritisiert im Gespräch mit dem MiGAZIN eine „Unsichtbarmachung“ der Opfer. „Im Nachgang erhielten die Opfer keine Entschädigung oder Entschuldigung, sondern wurden meistens abgeschoben“, so der Experte. Auch die geringe Anzahl von zumeist milden Strafen der Täter, die teilweise erst nach zehn Jahren zustande kamen, kritisiert Ha. Das müsse in den Augen der Opfer „wie eine nachträgliche Verhöhnung des Rechtsstaats“ gewirkt haben.

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und die Amadeu Antonio Stiftung forderten indes ein Ende von Massenunterkünften für Asylbewerber. Noch immer seien Unterkünfte für Flüchtlinge Zielscheibe für rassistische Gewalt, erklärten sie am Montag gemeinsam. Um dem zu begegnen, müssten die Heime aufgelöst und Flüchtlinge schnell in Kommunen verteilt werden. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es in Deutschland 43 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, wie kürzlich eine Anfrage der Linken im Bundestag ergab. Im Durchschnitt werden demnach zwei Asylbewerber pro Tag Opfer einer in aller Regel rechtsextrem motivierten Attacke. (epd/mig)